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Dieser Artikel ist in der
Ausgabe Juni 2019
zu finden.
In
Freetown geboren
Ich wurde am 12. April 1999 in
Freetown, der Hauptstadt von Sierra Leone, geboren. Mein Vater arbeitete in
einer staatlichen Behörde, die Führerscheine ausstellte. Meine Mutter war
Hausfrau und einige Stunden in der Woche in einer Schneiderei für Stoffe tätig.
Wir gehörten der bürgerlichen Schicht an und uns ging es besser als den meisten
im Land. Unsere Wohnung war groß und meine Eltern konnten die Schulgebühren für
uns Kinder bezahlen. Mein Bruder und ich waren verrückt nach Fussball, aber
unserem Vater war es wichtiger, dass wir uns in der Schule anstrengten.
In der zweiten Klasse
verletzte ich beim Spielen mein linkes Auge so stark, dass ich einige Monate im
Krankenhaus lag und viel Stoff in der Schule verpasste. Meine Eltern bezahlten
mir Privatunterricht, damit ich es trotzdem in die dritte Klasse schaffte – mit
Erfolg. Nach der sechsten Klasse durfte ich sogar auf ein Gymnasium. Hier
konnte ich leider keinen Abschluss mehr machen. Denn im letzten Schuljahr
begann unsere Katastrophe.
2014 kam es zu einer
Ebola-Epidemie in Sierra Leone. Mein kleiner Bruder Maada besuchte damals die
sechste Klasse auf einer Privatschule und wohnte in einem Internat. Er war nur
am Wochenende bei seiner Familie, um bei seinem Verein Fussball zu spielen. Ich
wohnte in der Stadt Bo, im Norden des Landes, um dort das Gymnasium zu
besuchen. Wir wohnten also beide zu dieser Zeit nicht zuhause. Nur dadurch
erkrankten wir nicht an Ebola. Zuerst infizierte sich meine kleine Schwester
Zeinab. Sie war zu dem Zeitpunkt sechs Jahre alt. Dann wurden meine Eltern
krank und innerhalb von einigen Tagen waren Maada und ich Waisen. Anschließend
wurden wir drei Wochen in Quarantäne untersucht. Als die Ärzte feststellten,
dass wir gesund waren, durften wir wieder in die Schule. Diese Zeit war extrem
schwer und belastend – doch wir hatten gar keine Zeit zum Trauern, denn es
sollte noch schlimmer kommen.
Alle hatten Angst, wir könnten
sie mit Ebola anstecken. Lehrer und Mitschüler mobbten uns und wir wurden zu
Außenseitern. Es kam zu gewalttätigen Übergriffen auf uns. Unsere Eltern hatten
zwar für das Schuljahr bezahlt, doch der Schulbesuch war so nicht mehr möglich
für uns.
Wir kamen in Freetown bei
Claude, einem Freund von mir, unter. Leider hatte zu diesem Zeitpunkt die ganze
Gesellschaft Angst davor Kontakt zu uns zu haben. Ebola breitete sich aus und
innerhalb von Monaten waren tausende infiziert. Wenn Angehörige einer Familie
erkrankt waren, war es für alle in der Familie schwer Essen zu kaufen. Aus
Angst vor uns lehnten Menschen einfach sämtlichen Kontakt ab. Unser normales
Leben war beendet.
Im September 2014 wurden in Sierra Leone in 13 von 14 Distrikten Ebola-Fälle gemeldet
Im November 2014 wurde mein
Bruder verprügelt. Ich stellte die Familie eines beteiligten Jungen zur Rede.
Sie trieben mich schnell vom Grundstück und verfolgten mich. Es begann eine
Verfolgungsjagd zu Fuß durch Freetown. Einer meiner Verfolger wurde dabei von
einem Auto angefahren und schwer verletzt. Später erfuhr ich, dass er ein
Familienmitglied war und leider an seinen Verletzungen verstarb. Die Familie
machte mich natürlich für den Tod verantwortlich. Also stürmten sie noch am
gleichen Tag die Wohnung von Claude. Wieder mussten wir durch eine Hintertür
wegrennen. Diesmal für immer. Wir verließen noch in der Nacht das Land und
gingen nach Guinea. Hier wohnte Claudes Familie, die uns weiterhelfen wollte.
Die
Flucht beginnt
Per Taxi im Nachbarland Guinea
angelangt, konnten Maada und ich aber kaum einen Monat im Haus der Familie
bleiben. Uns wurde gesagt, das Haus ist überfüllt und wir müssten uns eine
andere Unterkunft suchen. Claude erzählte mir daraufhin von seinem Onkel, der
schon seit Jahren in Libyen lebte. Hier könnten wir unterkommen und ein neues
Leben anfangen. Claudes Onkel sagte zu und Claude organisierte für mich und
meinen Bruder das Geld für eine Busfahrt, vorerst bis Mali. Dort angekommen
fragte ich nach dem Bus, der von Mali direkt nach Libyen fahren sollte. Wir
wussten nicht, dass wir an einen modernen Sklavenhändler geraten waren. Dieser
Verbrecher log uns an und sagte, es gäbe nur einen Bus, der von Mali über
Burkina Faso und Niger nach Libyen fahre. Wir waren naiv und bezahlten den Ticketpreis.
Am nächsten Tag wurden Maada
und ich mit vielen anderen Flüchtlingen in einen engen Transporter geprügelt.
Im Transport waren so viele Menschen, dass man kaum richtig Luft holen konnte.
Sich zu bewegen war unmöglich. Diese Fahrt dauerte mehrere Tage. Während der Nächte wurden alle in größere
Hallen gesperrt. Diese lagen entlang der Route und wurden von weiteren
Sklavenhändlern kontrolliert. Alles war bestens organisiert. Während der Nächte
wurden stets einige Gefangene in andere, kleinere Räume gebracht, um Geld von
ihnen zu erpressen. Wer nicht bezahlten konnte oder wollte wurde verprügelt.
Auf diese Weise verloren wir all unser Geld. An einer Grenze wurden uns von
ihnen zudem die Ausweise abgenommen, die wir nie wiedersahen. Im Niger
schließlich konnten wir nichts mehr zahlen und wurden als wertlose Jungs
einfach stehen gelassen, während der Bus weiterfuhr.
Das wir unser Geld verloren
hatten, war mir fast egal. Es fühlte sich wie eine Erlösung an. Allerdings eine
sehr kurze. Denn in der nächsten Nacht bat ich einen Mann, mir sein Handy zu
leihen, um Claudes Onkel in Libyen zu kontaktieren. Das Handy war aber leider
ausgeschaltet. Der Mann meinte, er kenne auch eine Möglichkeit, nach Libyen zu
gelangen. Leider waren wir bei diesem Typ nochmal an einen Sklavenhändler
geraten. Wir vereinbarten also einen Treffpunkt für den nächsten Tag. Er sagte
mir, dass wir dort warten sollen und dann würden wir nach Libyen gebracht
werden. Von diesem Zeitpunkt an, gab es keine Chance mehr zu entfliehen.
Zusammen mit vielen anderen
Menschen wurden wir am nächsten Morgen an jenem Treffpunkt mit Waffengewalt auf
einen offenen Wagen getrieben, der sich völlig überfüllt auf den Weg durch die
Wüste machte. Wir bekamen einen Stock, den wir aufrecht zwischen den Knien
festhalten sollten, um nicht vom Wagen zu fallen. Nachts hielt der Wagen
einfach irgendwo in der Wüste. Wir, die Gefangenen, mussten absteigen und
versuchen um den Wagen herum Schlaf zu finden. Ich gab meinem Bruder meine
Jacke, damit er es etwas wärmer hatte. Denn die Nächte in der Wüste waren
eiskalt. So kalt, dass einige aus Verzweiflung ihre Kleidung verbrannten, um
sich am Feuer zu wärmen. Wer auch nur im Ansatz versuchte, sich gegen die
Befehle der Sklaventreiber zu wehren, wurde mit Stöcken geschlagen. Unsere
bewaffneten Aufseher waren Araber und Afrikaner, aber mir war ihre Ethnie egal
– es waren einfach Verbrecher. Einmal blieb der Wagen im Sand stecken und alle
Gefangenen mussten absteigen und ihn herausschieben, bis es weitergehen konnte.
Stets wurden wir dabei bewacht und mit Hieben von unseren Wärtern angetrieben,
wenn es ihnen zu langsam ging.
Doch als wir endlich Libyen
erreichten, hatten wir kein Ziel, sondern den nächsten Albtraum erreicht.
Eine der letzten Aufnahmen von Hindolo Micheal Nabie in Freetown
Fortsetzung
in Horizont Magazin Nr. 2
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