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Dr. Ruth Röcher ist seit 2006 ehrenamtliche Vorsitzende der jüdischen Gemeinde in Chemnitz. Hauptberuflich arbeitet sie seit 25 Jahren als Religionspädagogin in Sachsen. Ein Gespräch über jüdisches Leben, Ideen für friedliches Zusammenleben und die Situation in Chemnitz.
Könnten Sie uns zu Beginn einen kurzen Einblick in das Gemeindeleben in Chemnitz geben? Welche Aufgaben umfasst Ihre Rolle als Vorsitzende?
„Das ist eine große Frage. Sie müssen sich das so vorstellen: Gemeindeleben ist so ähnlich wie eine Ministadt. Von der Geburt bis zum Tod passiert hier alles. Jüdisches Leben ist im Grunde etwas, das das Leben als Ganzes mit sich zieht. Es ist nicht so, dass wir uns hier nur mit der jüdischen Religion beschäftigen.
Als ich 2006 gewählt wurde, waren meine großen Aufgaben die Bäume auf unserem Friedhof. Dadurch, dass sie so alt sind, wurden sie zu einer Gefahr bei anstehenden Stürmen – Fallen sie um und würden sie die denkmalgeschützten Gräber zerstören. Auf einmal hab ich mich also mit Bäumen beschäftigt. Gleichzeitig haben wir auch viele ältere MitgliederInnen. Die Sterberate liegt bei durchschnittlich 15 Sterbefällen pro Jahr. Mir war schnell klar, dass der Platz auf dem Jüdischen Friedhof nur noch für ca. drei Jahre ausreichen würde. Also musste ich anfangen zu handeln. Es war ein langer und schwieriger Prozess. Sowohl für die Ämter als auch für uns. Soviel bezüglich des Todes. Aber wir haben auch Hochzeiten – leider viel zu wenige – und Geburten von Kindern; wenn es Jungen sind, müssen sie am achten Tag beschnitten werden, und ja – es muss eben alles organisiert werden.
Außerdem haben wir den Kindergarten hier, der auch offen ist für nicht-jüdische Kinder. Neben dem sächsischen Bildungsplan wird auch jüdische Erziehung vermittelt. Das bedeutet, dass die Kinder schon ab dem Kindergartenalter etwas über die jüdischen Feiertage lernen. Dann haben wir hier die Schüler, die zum Religionsunterricht kommen. Mittlerweile haben wir in Sachsen die Anerkennung des jüdischen Religionsunterrichts als ordentliches Lernfach. Somit geben wir auch Unterricht an den Grundschulen. Das Lernen ist ein sehr wichtiger Teil des jüdischen Lebens. Auch Erwachsene bekommen hier Unterricht und können beispielsweise die Auslegung der Tora und die Worte der Weisen lernen.
Foto: Karin Licht
Darüber hinaus ist die Synagoge das Zentrum Jüdisches Leben. Jeden Freitagabend und Samstag finden Gottesdienste statt. Alle jüdischen Feiertage werden hier gefeiert.
Unter dem Dach der Gemeinde sind etliche Vereine entstanden, die sich um die MitgliederInnen kümmern. Wir haben zum Beispiel den typisch jüdischen Verein
Bikkur Cholim
, der eine Säule jeder Gemeinde ist. Der Verein kümmert sich um die kranken und alten MitgliederInnen.
Wir haben einen Frauenverein, einen Sportverein und eine Gruppe, die sich um Sehbehinderte kümmert, deren Muttersprache Russisch ist. Diese zuletzt genannte Gruppe ist schon eine Besonderheit. Ich denke wir sind die einzige jüdische Gemeinde in Deutschland, die sich um diesen Kreis von Menschen mit Behinderungen, egal zu welcher Religion sie gehören, kümmert. Wir haben sogar eine Hörbibliothek auf Russisch. Die Audiodateien werden innerhalb ganz Deutschlands verschickt. Die Audiodateien stammen aus einer großen Hörbibliothek in Moskau.
Unser Chor ist stadtbekannt. Die Chorleiterin war, bevor sie aus dem heutigen Weißrussland hierher emigriert ist, auf Platz 10 in der gesamten Sowjetunion. Sie hat hier einen Erwachsenenchor aufgebaut, der oft in der Stadt auftritt. Wir haben auch noch eine Tanzgruppe für Frauen, die sich mit israelischen Volkstänzen beschäftigt und wöchentlich im Gemeindehaus probt. Beide Gruppen nehmen auch Personen, die keine JüdInnen sind, auf. Wie Sie sehen ist das Leben hier ziemlich in Bewegung.“
Wieviele MitgliederInnen gibt es derzeit?
„Im Moment gibt es 550 MitgliederInnen. Es ist aber nicht so, dass alle JüdInnen, die in der Stadt leben, MitgliederInnen in der Gemeinde sind. Manche möchten nicht.“
Welches sind Ihre Lieblingsaufgaben, die als Vorsitzende anfallen?
„Als Vorsitzende erlebe ich ständig Überraschungen. Ich weiß, dass jeden Tag Probleme auftreten und merke, wie dies meine MitarbeiterInnen belastet. Ich hingegen sehe es so: Es ist ein Teil unserer Arbeit und wir müssen dann einfach einen Weg finden das Problem zu lösen. Es gefällt mir gut, dass ich über den Lauf der Jahre gelernt habe, dass mir schlechte Nachrichten keine Panik bereiten. Es gehört einfach dazu, wenn man mit so vielen Menschen in so vielen Richtungen agiert. Ich betrachte es eben als Herausforderung und ich sehe, dass letztendlich alles in Ordnung kommt. Ich mag es auch sehr, dass hier im Vorstand einige gute Köpfe sitzen und wenn wir Themen angehen oftmals ganz verschiedene Vorstellungen kursieren als nur meine eigene. Dann ist es zwar meine Aufgabe als Vorsitzende das Projekt durchzuziehen, aber die Entscheidung finden wir gemeinsam. Ich finde es auch wunderbar, dass alle Ideen und Träume im Bereich Kultur in die Wirklichkeit umgesetzt werden können. Wir bekommen hier in Chemnitz viel Unterstützung von allen Seiten.
Das Leiten der Gemeinde verlangt unheimlich viel Kraft und Zeit. Es ist ein Ehrenamt neben Beruf und Familie. Ich bin bereit viel zu tragen, erwarte aber von dem Vorstand und den Angestellten ein ähnliches Engagement. Was ich aber unheimlich mag ist die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen. Ich bin seit 25 Jahren die einzige jüdische Religionspädagogin in Sachsen. Ich unterrichte und organisiere darüber hinaus Freizeitaktivitäten für meine SchülerInnen, wie beispielsweise Begegnungen, Ausflüge, gemeinsame Wochenenden, etc. Diese Arbeit gibt mir die Kraft für mein Ehrenamt als Vorsitzende.“
Das klingt schön. Sie hatten vorhin erwähnt, dass der Kindergarten offen für alle sei – könnte man dieses Format Ihrer Meinung nach weiterentwickeln?
„Unser Kindergarten wurde 2011 von mir als jüdischer Kindergarten gegründet. Ohne die Hilfe der Stadt Chemnitz wäre es nicht gegangen. Insgesamt ist es eine sehr kleine Gruppe. Seit 2015 gab es einige Gespräche auf städtischer Ebene, bei welchen ich immer betont habe, dass für Chemnitz ein interreligiöser Kindergarten gut wäre. Ein Ort, in dem sich die Kinder von Kleinkindesalter an kennenlernen und Vorurteile auch von Seiten der Eltern abgebaut werden. Die Kinder würden gemeinsam spielen und Freunde werden, unabhängig davon, welcher Religion sie angehören.“
Gab es Resonanz von der Stadt?
„Ja alle finden es wunderbar.“
Jetzt muss es nur jemand umsetzen.
„Genau. Ich mache es nicht. Es war eine schwierige Aufgabe 2011 mit dem jüdischen Kindergarten zu beginnen. Die Initiative sollte von der Stadt ausgehen, jedoch wären wir von Seiten der jüdischen Gemeinde offen zu helfen und zu kooperieren. Für die Gesamtkoordination reichen unsere Kräfte jedoch nicht aus.“
Die Synagoge in Chemnitz von Innen. Auf dem Fenster ist das Wort Chai חי mehrmals wiederholt. Das Wort bedeutet “Leben”. Als “Fenster zur Welt” soll hiermit symbolisch das Leben innerhalb und außerhalb der Synagoge miteinander verbunden werden. / Foto: Karin Licht
Gibt es weitere Anknüpfungspunkte interreligiösen Dialogs in Ihrem täglichen Schaffen?
„Der heute pensionierte Pfarrer Brenner, der auch im Rahmen des Chemnitzer Friedenstages sehr aktiv ist, führt interreligiöse Gespräche. Er hat auch vor Jahren eine interreligiöse Busfahrt eingeführt. An einem Sonntag im Herbst, konnten sich ChemnitzerInnen melden und mit dem Bus fünf oder sechs Stationen unterschiedlicher Religionen in der Stadt Chemnitz anfahren (verschiedene Kirchen, die Synagoge, Moschee, baptistische Einrichtungen, etc.). Dort gab es dann jeweils ein Gespräch mit VertreterInnen der Religionen. Es war wirklich etwas sehr Sinnvolles. Aber ich denke das Projekt ist eingeschlafen.
Seit der sogenannten
Flüchtlingswelle
gibt es vom Zentralrat der Juden in Deutschland ein vom BMI gefördertes Projekt, an welchem wir auch teilnehmen, das unter dem Motto:
„Weißt Du wer ich bin?“
Begegnungen der drei großen Religionen (
Anm.d.Red. Judentum, Islam, Christentum
) organisiert.
Dann haben wir in Chemnitz noch einen christlichen Verein, der heißt
Brücke e.V.
, der gemeinsame Projekte mit der jüdischen Gemeinde initiiert hat. Es wurden Seminare, Vorträge, sowie gemeinsame Fahrten nach Buchenwald und Weimar etc. durchgeführt.“
Und haben auch Geflüchtete teilgenommen?
„Ja, die größere Gruppe waren Geflüchtete. Leider haben von unserer Gemeinde relativ wenige teilgenommen.“
Können Sie in letzter Zeit Auswirkungen eines zunehmenden Antisemitismus auf das Leben der Gemeinde vor Ort beobachten bzw. gibt es MitgliederInnen, die überlegen aufgrund des zunehmenden Rechtsrucks Chemnitz, Sachsen oder Deutschland zu verlassen?
„Also unter uns Juden nutzen wir die Metapher des Koffers. Wir reden, wenn es um uns herum beginnt heikel zu werden, darüber „unseren Koffer zu packen“. Ist „der Koffer ausgepackt“, fühlen wir uns gut und bleiben, sobald wir uns jedoch fragen: „Wo ist mein Koffer?“ sind Unsicherheiten im Spiel.
Antisemitismus gab es in Chemnitz immer latent. Oft kommt es als Israel-Kritik und diese Menschen, die Israel kritisieren merken überhaupt nicht, dass ihre Gedanken antisemitisch sind. Ich akzeptiere jede Kritik an Israel, weil es legitim ist jedes Land und jede Politik zu kritisieren, aber die Frage ist immer wie man seine Kritik formuliert und begründet. Also wir hatten hier nicht viel Antisemitismus.
In manchen Schulen kursiert das Schimpfwort „Du Jude“, aber unsere Schüler, die hier in Chemnitz geboren und aufgewachsen sind, betrachten dieses Schimpfwort nicht als antisemitisch. So auch SchulleiterInnen und LehrerInnen an Chemnitzer Schulen. Das erschreckt mich noch mehr.“
Und können Sie beobachten, dass es schlimmer geworden ist oder ist es gleichgeblieben?
„Gleichgeblieben. Naja wir haben jahrelang keine antisemitischen anonymen Briefe mehr bekommen. Ich erinnere mich noch, als ich 1994 gekommen bin, gab es ab und zu einen hässlichen Anruf oder Brief. Dann war eine lange Zeit nichts mehr. Seit dem Auftreten der AfD mit ihrer Rhetorik fühlen sich manche gestärkt uns zu verletzen oder zu attackieren, aber in der Regel anonym bzw. mit falscher Adresse. Trotzdem kann ich nicht sagen, dass es hier in Chemnitz wirklich schlimmer geworden wäre.
Ich kann nur sagen, dass wir seit dem Anschlag in Halle Angst haben. Die Polizei steht nun 24 Stunden Streife, ansonsten würden viele MitgliederInnen nicht kommen oder ihre Kinder nicht zum Unterricht schicken. Eine Polizei Patrouille gab es schon immer, aber nun stehen sie hier permanent.
Seit dem Sommer 2018 hat Chemnitz einen international schlechten Ruf bekommen. Die Nazis marschierten in der Stadt. Der Vorstand diskutierte wie wir reagieren sollten. Unsere Entscheidung war, trotz Angst weiterhin unser kulturelles und religiöses Programm durchzuführen. Und tatsächlich, zu jedem Konzert oder Vortrag bei uns im Haus kommen ganz viele ChemnitzerInnen. Auch am Tag der Eröffnung
Der Tage der jüdischen Kultur
Anfang März hatten wir 300 ChemnitzerInnen in der Synagoge. Das ist für mich die Antwort der Stadtbevölkerung – als indirekte Aussage, dass wir hier akzeptiert werden und das zeigt, dass es ein großer Teil der BürgerInnen schön findet, dass wir da sind.
Leider werden wir dieses Jahr Corona-bedingt Ausfälle haben. Bestimmte Gäste aus Israel können nicht kommen. Aber das können wir nicht ändern. Einige Konzerte im Rahmen der Tage der jüdischen Kultur mussten abgesagt werden.“
Was sind Ihre persönlichen Wünsche für die Gemeinde und die Stadt bzw. welche Forderungen stellen Sie an die Politik und die Menschen?
„Aufgrund der Geschichte sind wir als Juden – und das betrifft nicht nur die jüdische Gemeinde Chemnitz – sehr sensibel und empfindsam: Was passiert jetzt in der Gesellschaft? Rückt sie nach rechts? Packen wir unsere Koffer ein? Und wir machen uns Sorgen, genauso wie viele andere BürgerInnen in der Gesellschaft, aufgrund des Rechtsrucks und des Populismus, der leider schon Erfolg in Deutschland hat. Das ist unsere größte Sorge.
Wir haben Familien und Einzelpersonen, die Deutschland verlassen, aber nicht direkt aufgrund der Ereignisse 2018. Es gab immer Leute unter uns, auch junge Leute, die als Kinder gekommen sind, die jetzt als junge Erwachsenen ihre Sachen packen und Deutschland verlassen. Man wartet nicht bis zuletzt. Wenn man sich unsicher fühlt, dann kann man seine Situation ändern.
In Deutschland gibt es sehr viele vernünftige, demokratische Kräfte. Ich bin Optimistin und vertraue in diese Kräfte.
Der Stadt Chemnitz wünsche ich, dass wir Kulturhauptstadt 2025 sein werden und dass die Entscheidung zur Städtepartnerschaft mit einer Stadt in Israel bald umgesetzt wird. Und der Gemeinde selbst wünsche ich so schnell wie möglich die Baustelle zu beenden, weil wir schon seit Jahren das Haus sanieren und Baumängel beheben.“
Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch genommen haben. Wenn wir den Dialog als Chance nutzen, können wir zusammenleben und gemeinsam lernen.
Frau Dr. Ruth Röcher – Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde / Foto: Jüdische Gemeinde Chemnitz
URL: https://web.archive.org/web/20220127181551/https://www.horizontmagazin.de/2020/04/schuldig-oder-verschuldet/
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